Wie der Osten in den Westen gebracht wurde…

Sendemanukript für BR Klassik

1
Gurdjieff / de Hartmann
Prayer and Despair
Keith Jarrett (Pf) (Ludwigsburg, März 1980)
ECM 1174 / 829 122-2 (LC 02516)
Track 2 (Dauer: 3’43)

‚Prayer and Despair’ von George Ivanowitsch Gurdjieff, gespielt von Keith Jarrett – eine Musik von höchster Reinheit des Ausdrucks, in fein ziselierter Faktur, ganz aus der melodischen Energie geboren, auf einfachsten Harmonien. Als die Musik Gurdjieffs einem breiteren Publikum bekannt wurde, gab es zunächst einige Irritation unter Fachleuten. Ist es nicht zu einfach? Ist so etwas zeitgemäß? Ist es zulässig, die Musik nicht-temperierter, also in der Intonation viel flexiblerer und facettenreicherer orientalischer Herkunft auf das Klavier zu übertragen, das bekanntermaßen nur über die zwölf Halbtöne des westlichen Systems verfügt? Was hat das alles mit den Ursprüngen zu tun, auf die hier zurück gegriffen wird?
Gurdjieff war einer der großen spirituellen Lehrer des 20. Jahrhunderts. Als ein Mensch, der erkannt hatte, dass fast die ganze Menschheit sich im Schlaf des Alltagsbewusstseins bewegt, ohne Verbindung zu den subtileren Aspekten des Seins, also ohne wirkliche Bewusstheit, war es ihm auch in der Musik darum zu tun, dass alles, was in Gang gesetzt wird, bewusst geschieht. Musik, wie alle Kunst, die ihres wahrhaften Anspruchs würdig sei, müsse eine eindeutige Wirkung auf den Menschen haben, indem sie ihn in Verbindung mit etwas bringen kann, was jenseits der bekannten physischen, emotionalen und intellektuellen Reize liegt – freilich ohne diese auszuschließen. Hier unterschied Gurdjieff zwischen objektiver und subjektiver Kunst. Fast alle Kunst, die wir in der westlichen Zivilisation kennen, ist subjektiv, ihre Wirkung in allzu vielen Aspekten zufälliger Natur – für den einen so, für den anderen anders, und die Qualität wird fast immer nach dem bestimmt, was wir Geschmack nennen, um dann ideologisch zu unterscheiden zwischen ‚besserem’ und ‚schlechterem’ Geschmack.
Für Gurdjieff waren die Menschen, denen er begegnete, fast alle ‚Maschinen’. Das mag schwer zu akzeptieren sein, denn was wir für gewöhnlich halten – in automatisierten Handlungen und vorhersagbaren Automatismen zu leben –, war für ihn ein unerträglicher, unwürdiger Zustand, aus dem der Mensch, will er seiner wahren Aufgabe gerecht werden, sich befreien muss. Und denen, die bereit waren, den zutiefst beabsichtigten Entschluss zu fassen, sich frei zu machen von der scheinbaren Sicherheit ihrer Konditionierungen, die sich vorbehaltlos ihren Ängsten und Mängeln stellen und diese überwinden wollten, stellte er sich als strenger Lehrer zur Verfügung.
Vieles ist geschrieben worden über Gurdjieffs Lehrmethoden, doch waren sie für westliche Begriffe zu unorthodox, um allgemein verstanden zu werden. Im Orient, zumal in der sufischen Tradition, ist die völlige Übergabe des Willens an einen Lehrmeister eine bekannte Sache, der sich die Mutigen stellen, die lernen wollen, wie man lernt, und wirklich begreifen, dass, wie Mozart sagte, „der Tod der wahre Endzweck des Lebens ist“. Darum das sufische Motto „Stirb, bevor du stirbst!“ Statt wegzuschauen, bis es zu spät ist, das Leben als Vorbereitung für diesen Moment nutzen, und zugleich – anders als in manchen fernöstlichen Lehren – mitten im Leben stehen, der Gemeinschaft dienen, also den wahren Zweck dieses Daseins erfüllen, ohne sich darin zu verlieren.
Von Jugend an war es diese Frage, die Gurdjieff zu seinem Lebensmotto gemacht hatte: Was ist der wahre Zweck unseres Daseins?
Es mag erstaunen, dass Gurdjieff, der viele Dinge beherrschte, der auch ein exzellenter Schriftsteller, Handwerker, Organisator und Geschäftsmann war, als Komponist innerhalb von weniger als zwei Jahren mehr als 300 Kompositionen verfertigen konnte. Dies wäre in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen, hätte er nicht seit 1916 einen Schüler gehabt, der ideale Voraussetzungen für die technische Umsetzung mitbrachte: Thomas de Hartmann, geboren 1885 in der Ukraine, Schüler von Anton Arensky und Sergej Tanejev, ein Könner bester russischer Schule. Nach dem Studium am Petersburger Konservatorium war de Hartmann außerdem nach Deutschland gegangen, hatte in München bei Felix Mottl Dirigieren studiert und sich mit Arnold Schönberg dem avantgardistischen Kreis des ‚Blauen Reiters’ um Franz Marc und Wassily Kandinsky angeschlossen, auf der Suche nach einer neuen Kunst. Später bekannte de Hartmann, dass ihm die ganze Zeit etwas Entscheidendes gefehlt habe: „… etwas Größeres und Höheres, das ich nicht benennen konnte“. Das fand er, als er auf Gurdjieff traf. Und Gurdjieff bereitete ihn Stück für Stück auf seine neue Aufgabe vor: eine objektive Musik zu schreiben, die insbesondere zu den rituellen Tänzen seiner Gemeinschaft der Sucher, später bekannt als ‚Movements’, erklingen sollte. De Hartmann ging während der Schulung durch Gurdjieff weiter seiner Profession nach. Als sie gemeinsam auf der Flucht vor den Bolschewiken in Tiflis waren, lehrte de Hartmann am dortigen Konservatorium, und Gurdjieff wies ihn an, die einheimischen Musiker mit ihrer traditionellen Musik zu studieren. Desgleichen in Konstantinopel. So bekam de Hartmann allmählich einen natürlichen Bezug zu den Idiomen der orientalischen Musik, und als sie 1922  gemeinsam in der Nähe von Paris, im Château de Prieuré zu Avon bei Fontainebleau, das berühmte ‚Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen’ eröffneten, war es soweit: Eine in der Geschichte einmalige Kollaboration zweier Musiker brachte ein umfangreiches Œuvre hervor, das so unverwechselbar und klar klingt, als habe es ein Mensch geschaffen. Eines der in seiner Einfachheit und Konzentration schönsten Stücke ist gewiss die ‚Initiation der Priesterin’, wie sie 1923 bei den ersten öffentlichen Darbietungen der ‚Movements’ in Paris erklang. John G. Bennett schieb darüber, er habe „nie zuvor eine so eigenartig aufwühlende Musik gehört“, und Katherine Mansfield berichtete, dass das Stück „das ganze Leben einer Frau enthält. Nichts ist ausgelassen. Es lehrte mich und offenbarte mir mehr über das Leben einer Frau als jedes Buch oder Gedicht.“

2
Gurdjieff / de Hartmann
‚Initiation of the Priestess’
The Metropole Orchestra, Jan Stulen
Basta 3091652
CD 1, Track 7, Anfang (Dauer: 5’09“)

George Ivanowitsch Gurdjieff ist wahrscheinlich 1866 in Alexandropol in Armenien geboren worden, nahe der türkischen Grenze. Sein Vater war Grieche mit dem originalen Familiennamen Georgiadis, seine Mutter Armenierin. Der Vater hatte es als Besitzer von Schaf- und Viehherden zu Wohlstand gebracht und wirkte zudem als Aschoch, also einer jener Troubadoure, wie sie vor der russischen Revolution im Kaukasus noch als Fortführer einer aus uralter Zeit ungebrochen fortgesetzten Tradition existierten. So wuchs der junge Gurdjieff mit einer Gesangs- und Erzähltradition auf, in der die unterschiedlichsten Einflüsse zentralasiatischer und christlich-orthodoxer Herkunft verschmolzen. Er genoss eine so strenge wie liebevolle Erziehung. Durch eine Viehseuche wurde die Familie in Armut gestürzt und zog, nach der Eroberung durch die Russen, ins türkische Kars. Hochbegabt und hellwach wie er war, wurde Gurdjieff dort vom Dekan der Kathedrale persönlich unterwiesen.
Daran schließt sich eine Zeit an, die voller Rätsel ist. Gurdjieff hat viel darüber in seiner allegorisch verschlüsselten Autobiographie ‚Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen’ geschrieben. Mit einigen Gefährten, sie nannten sich ‚Wahrheitssucher’, zog er auf der Suche nach Spuren ‚unvergänglichen Wissens’ quer durch den asiatischen Raum: nach Afghanistan, Tibet, Indien, durch die Wüste Gobi, nach Ägypten und in entlegenste Gebiete Zentralasiens. Er wurde im Laufe langer Jahre von einem Sufi-Meister zum nächsten geschickt und erhielt schließlich, als er die nötige Reife erlangt hatte, den Auftrag, das erworbene Wissen in den Westen zu bringen. So tauchte er 1913 in Moskau auf, und schnell scharte sich ein Kreis von Menschen um ihn, zu dem auch der Philosoph Pjotr Ouspensky stieß, der später in seinem Buch ‚Auf der Suche nach dem Wunderbaren’ die umfassendste Zusammenfassung von Gurdjieffs Lehrsystem in die Welt tragen sollte. Nach der Flucht in den Westen lebte Gurdjieff in und bei Paris und bereiste mehrfach die USA, wo er viele Anhänger hatte. In literarisch-intellektuellen Kreisen war seine Lehre en vogue, und gerade diesen gebildeten Menschen führte Gurdjieff ihre Lebensferne und Unzulänglichkeit vor. Die Konventionen ihrer christlichen oder materialistischen Dogmen fielen in sich zusammen wie Kartenhäuser, als Gurdjieff sie in alltäglicher harter Arbeit an sich selbst lehrte, dass der Mensch nicht von vorneherein eine Seele hat, sondern lediglich über den Samen dafür verfügt. Er war kein Guru im klassischen Sinn, also kein Retter, sondern gab nur die Anleitung dafür, wie seine Schüler sich selbst retten, also aus den Ketten ihrer Mechanismen befreien konnten.
Nachdem er 1924 einen schweren Autounfall hatte, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, arbeitete Gurdjieff an neuen Entwicklungsformen der Lehre. Ab 1925 entstand in knapp zwei Jahren fast die ganze Musik, die er mit de Hartmanns Hilfe komponierte. Danach schrieb er seine drei Bücher unter dem Sammeltitel ‚All und Alles’: Das Hauptwerk daraus ist ‚Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel’, eine verschlüsselte Widerlegung „all dessen, was die Menschheit als wahr annimmt“. Auch wenn es von den meisten, die es gelesen haben, höchstens fragmentarisch verstanden wurde, hat es doch einen unterschwelligen Einfluss auf unsere kulturelle Entwicklung genommen, der kaum zu überschätzen ist. Über die deutsche Besatzungszeit hinweg lehrte Gurdjieff weiterhin in Paris, bis zu seinem Tod am 29. Oktober 1949. Seine Schüler haben versucht, das Erbe weiterzutragen – mit unbestreitbaren Erfolgen, doch gleichwohl die meisten von ihnen auch in dem Irrtum, zu glauben, seine Lehrmethode sei getrennt von ihren Ursprüngen unverändert in eine neue Zeit zu übertragen.
Als Musiker war Gurdjieff von einer ergreifenden Einfachheit, was natürlich – ungeachtet der immensen Schärfe seines Intellekts – Aufschluss über den Menschen gibt. Es hat eine elementare Qualität, eine Substanz, die sich dem rationalen Blickwinkel nicht erschließt, und ist von einer unstillbaren Sehnsucht durchdrungen. Wie sagte René Zuber: „Das Bemerkenswerteste war sein Blick.“
Gurdjieff hat – in einfachster Manier – auf dem Akkordeon für seine Schüler improvisiert, und es sind erstaunlich viele Aufnahmen erhalten, die der Holländer Gert-Jan Blom vor einigen Jahren restauriert und bei dem Label Basta veröffentlicht hat. Es folgt eine dieser Improvisationen, durchdrungen von einer Melancholie, die mit weltlichen Sorgen nichts mehr zu tun hat. Die Tradition der kaukasischen Aschochs hat so doch noch im Westen ein letztes Echo aus weitvergangener Zeit gefunden.

3
George I. Gurdjieff
Improvisation (8. Juni 1949)
Basta 30-9115-2 (LC 01460)
CD 2, Track 1, Schluss (Dauer: 4’03“)

George Ivanowitsch Gurdjieff hat, auf der Grundlage seiner Reisen und der Schulung in rituellen Tänzen in asiatischen Klöstern und Orden, die Musik des Ostens in den Westen gebracht und damit auch wieder eine Verbindung hergestellt zu den Ursprüngen unserer Musikkultur, wie sie einst von den ersten Christen aus Kleinasien nach Europa gebracht wurde.
Zur gleichen Zeit machte sich ein Europäer auf, die Musik des Orients zu erkunden, mit dem großen Ziel, sowohl das musikalische Bewusstsein von Grund auf zu erneuern und eine Befreiung des musikalischen Ausdrucks aus den konventionellen Vorstellungen von Tradition und Fortschritt zu erreichen, als auch in der Absicht, eine Verschmelzung der westlichen Errungenschaften mit den östlichen Überlieferungen zu manifestieren. John Foulds wurde 1880 in Manchester als Sohn eines Fagottisten des Hallé Orchestra geboren. Früh zeigte sich seine musikalische Begabung, und 1900 trat auch er als Cellist ins Orchester ein. Zu jener Zeit hatte er als Komponist bereits – als erster Europäer – mit Vierteltönen experimentiert. Foulds ist einer jener unbegreiflichen Fälle, wie sie in England öfters vorgekommen sind: ein wirklich grandioser Komponist, von hinreißender Originalität, Inspiration, Leichtigkeit und Frische, auch handwerklich exzellent, also eigentlich mit allen Voraussetzungen für eine große Karriere gesegnet, und doch zeitlebens und selbst nach seinem Tode völlig verkannt. Erst vor wenigen Jahren begannen die Engländer, dank einiger fulminanten Aufnahmen des City of Birmingham Symphony Orchestra unter Sakari Oramo, seine Musik zu entdecken.
Seinen Lebensunterhalt verdiente John Foulds mit Light Music, also Unterhaltungsmusik, was vielleicht der Hauptgrund dafür ist, dass man sein ambitionierteres Schaffen ignorierte. Er hatte bereits einige seiner Hauptwerke geschrieben, als er 1914 Maud MacCarthy kennenlernte, die seine zweite Frau wurde. Mit dieser Begegnung nahm sein Leben die entscheidende Wendung. Sie war eine jener emanzipierten Frauen, die Indien bereist und sich mit der theosophischen Bewegung eingelassen hatten. Sie hatte sich in klassischer indischer Musik ausbilden lassen und auf diesem Gebiet eine Kompetenz erworben, mit der es in London niemand aufnehmen konnte. Foulds studierte nun die indischen Modi und verwendete die neuen Elemente in seinen Kompositionen. Viele seiner Werke schrieb er seither in einem einzigen feststehenden Modus, und es ist frappierend, wie er dabei nie in die Nähe von Monotonie geriet, obwohl auch ihm nur die zwölf Töne des temperierten Systems zur Verfügung standen – sieht man von der gelegentlichen, undogmatisch und sehr bewusst gewählten Einflechtung von Vierteltonpassagen in einigen langsamen Sätzen ab.
In einigen seiner Werke nahm John Foulds künftige Entwicklungen weit vorweg, so etwa in der ‚Gandharva-Music’, zu der er 1915 inspiriert wurde, die er jedoch erst elf Jahre später zu Papier brachte: Hier klingt bereits die spätere Minimal Music an, und zugleich könnte man mit etwas Fantasie meinen, es habe Johann Sebastian Bach nach Indien verschlagen. Foulds selbst sagte zu dem Stück, es sei eine Musik aus den sphärischen Phänomenen selbst, nicht eigentlich menschlichen Ursprungs: „Die Musik-Engel, durch deren Dasein diese Musik vermittelt wurde, werden in Indien ‚Gandharvas’ genannt.“

4
John Foulds
Gandharva-Music op. 49 (1926)
Juan Chuquisengo (Pf) (München, 2003)
Sony Classical SK 93829 (LC
Track 3 (Dauer: 3’29“)

Juan Chuquisengo spielte die 1926 vollendete ‚Gandharva-Music’ von John Foulds.
Foulds, der seine Musik in Visionen empfing, die er als ‚clairaudient’ bezeichnete, also in einer Art ‚hellhörerischem’ Zustand, vertrat musikalische Anschauungen, die bemerkenswert abwichen von allem, was um ihn herum stattfand. Der faszinierende Niederschlag seiner Forschungen und Theorien findet sich in seinem 1932 erschienenen Buch ‚Music To-Day’, das er mit der Opusnummer 92 versah, und das heute zu den begehrtesten Sammlerobjekten der Szene gehört. Das Buch ist eingeteilt in eine ‚Übersicht über die gegenwärtige Musik’ inklusive der ganzen Vielfalt ihrer technischen Mittel, eine Anleitung zu einer neuen musikalischen Ästhetik, eine Erörterung der neueren Meister der Komposition in detaillierten Betrachtungen, und einen Ausblick auf das Kommende. Der späte Skriabin ist in seinen Augen der visionärste und mutigste unter den neueren Tonschöpfern.
Foulds ist ein brillanter Schreiber, der um der Vermittlung seiner Erkenntnis willen vor nichts zurück schreckt und Kategorien in die abendländische Musik einführt, von denen bis dahin niemand etwas geahnt hat. Sein größter Coup, bis heute als solcher von der Fachwelt nicht erkannt, ist die Einführung der „einzig befriedigenden Klassifizierung“ in Fragen der Ästhetik. Diese ermisst sich für ihn an der Bewusstheit des Komponisten, und folgerichtig definiert er das ‚Genie’ als jemanden, der sowohl Zugang zu höheren Bewusstseinsebenen hat als auch die technische Befähigung der entsprechenden musikalischen Umsetzung. Nun hat Foulds einen alten Text in Sanskrit entdeckt, in welchem sieben Seinsebenen unterschieden werden – eine Systematisierung, die exakt übereinstimmt mit dem sufischen Nafs-System. Die unteren fünf Ebenen sind manifestiert; die oberen zwei (das Monadische und das Göttliche) sind unmanifestiert und somit eigentlich für einen gewöhnlichen Menschen auch bei idealer Nutzung seiner Lebenschance nicht erreichbar. Anders die unteren fünf, die sich wiederum – und zwar genau in der Mitte der dritten Ebene – teilen zwischen der Existenz der sterblichen Persönlichkeit und, vermittels des „Stirb bevor du stirbst!“, der unsterblichen Individualität. Diese fünf Ebenen sind, in aufsteigender Folge: die physische, die emotionale, die mentale – welche sich in die niedere und die höhere mentale Ebene aufspaltet –, die intuitive und die spirituelle oder geistige.
Das spezifisch Interessante ist dabei zunächst der Scheidepunkt innerhalb der mentalen Ebene. Hier hat der Mensch die Wahl: Will er die erworbene Klarheit, das Wissen, für niedere, seiner persönlichen Befriedigung dienende Zwecke nutzen, oder, um in der Entwicklung weiterzugehen und wirkliche Substanz hervorzubringen. Viele Mythen setzen hier an, wie die Geschichten der Griechen von Halbgöttern – es ist die immerwährende Geschichte von der Hybris der Mächtigen in dieser Welt, und nur die Wenigsten sind willens und in der Lage, ihre Macht nicht zu missbrauchen.
Um die Dimensionierung dieser Einteilung irgendwie begreifen zu können, sei erwähnt, dass die zweite Ebene – die emotionale – diejenige ist, auf welcher sich das ganze System gesellschaftlicher Ideale und Ordnungen bewegt: Religionen, Gesetze, Moral, der ganze Common sense der aufgeklärten Zivilisation mit ihren Einteilungen der Welt in Gut und Böse, in Gott und Teufel.
Unter den Komponisten, sagt Foulds, bewegen sich die meisten nur auf den zwei unteren Ebenen, und nur ganz wenige, wie etwa Palestrina, sind über die dritte Ebene hinausgedrungen. Dass Foulds in seiner Musik viele exotischen Elemente als erster verwendete, ist sicher interessant, wie auch sein Werdegang, der ihn schließlich 1935 nach Indien führte, wo er Music Director von All India Radio wurde, das Indo-European Orchestra mit einheimischen Instrumenten gründete und 1939 in Kalkutta an der Cholera starb. Der Großteil seiner letzten Werke ist verschollen.
Wirklich interessant und einzigartig ist, dass Foulds seine theoretischen Forschungen in die Praxis umsetzte und beispielhafte Kompositionen für die Anwendung der neuen, an den verschiedenen Bewusstseinsebenen orientierten Ästhetik schuf. Von 1919 bis Anfang der dreißiger Jahre arbeitete Foulds an einer Oper mit dem Titel ‚Avatara’, um dann schließlich festzustellen, dass dieses höchst anspruchsvolle Thema die Möglichkeiten der Darstellung auf einer Bühne überschreite, und die Oper zu vernichten. Nicht vernichtet hat er jedoch die Vorspiele zu den drei Akten, die er als ‚Mantras’ bezeichnete. Diese drei Mantras, die jeweils ohne Modifikation streng in einem vorgegebenen Modus komponiert sind, geben jede einen bestimmten Bewusstseinszustand wieder, aufsteigend von der dritten zur fünften Ebene, also das Mentale, das Intuitive und das Spirituelle.
Hören Sie zunächst einen Ausschnitt aus dem Mantra of Action, der Vision der irdischen Avatare, der Entsprechung der mentalen Ebene, jener Ebene der Macht und Klarheit also, wo sich die Geister scheiden. Es spielt, wie auch in den folgenden Ausschnitten, das City of Birmingham Symphony Orchestra unter der Leitung von Sakari Oramo.

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John Foulds, aus ‚Three Mantras from Avatara’ op. 61b (1919-30)
Mantra of Action and Vision of Terrestrial Avataras
City of Birmingham Symphony Orchestra, Sakari Oramo (Birmingham, Symphony Hall, Februar 2004)
Warner Classics CD 2564 61525-2 (LC 04281)
Track 1, Anfang (Dauer: 3’05“)

Nach dem Durchschreiten der mentalen Ebene und der damit verbundenen Entscheidung des Menschen, dem höheren und nicht dem niederen Selbst zu dienen, findet sich der Mensch in der intuitiven Ebene wieder, die auch die Ebene der Liebe, der Harmonie, der inneren Stille genannt wird. Foulds schreibt hier seinen langsamen Satz, berückend in den Harmonien und Farben, von erlesenster Verfeinerung und Schönheit: das Mantra of Bliss oder Vision der himmlischen Avatare.

6
John Foulds, aus ‚Three Mantras from Avatara’ op. 61b (1919-30)
Mantra of Bliss and Vision of Celestial Avataras
City of Birmingham Symphony Orchestra, Sakari Oramo (Birmingham, Symphony Hall, Februar 2004)
Warner Classics CD 2564 61525-2 (LC 04281)
Track 2, Ausschnitt (Dauer: 4’25“)

Wenn der Mensch sich nun in seiner Erleuchtung, als die er zunächst zweifelsohne das Erreichen der himmlischen Sphäre von Liebe und Intuition empfindet, nicht einnisten will, sondern weiterzieht, so erreicht er die spirituelle Ebene, diejenige der Erfüllung oder des ‚auferstandenen Selbst’: Der Egoismus stirbt, die Individualität wird geboren. Das freilich hat nichts zu tun mit existierenden Ideen von Glückseligkeit. Hier sind ganz andere Energien ungefiltert am Wirken. Foulds hat für die Charakterisierung dieser Bewusstseinsebene sein mit überbordender rhythmischer Energie jenseits menschlicher Vorstellungen von Harmonie und Schönheit überwältigendes Mantra of Will geschrieben, die Vision kosmischer Avatare. Auch dies ist zweifellos ein Versuch objektiver Kunst, unter Maßgabe eines uralten Systems der Beschreibung der dem Menschen bei vollkommenem In-den-Dienst-Stellen seiner Kräfte zugänglichen Bewusstseinsdimensionen. Den Osten in den Westen zu bringen bedeutete auch bei John Foulds, entscheidende Schritte zu machen, um die Gegenwart ihrem Ursprung zuzuführen.

7
John Foulds, aus ‚Three Mantras from Avatara’ op. 61b (1919-30)
Mantra of Will and Vision of Cosmic Avataras
City of Birmingham Symphony Orchestra, Sakari Oramo (Birmingham, Symphony Hall, Februar 2004)
Warner Classics CD 2564 61525-2 (LC 04281)
Track 3 (Dauer: 6’57“)

Sendemanukript für BR Klassik
Produktion: Susanne Schmerda
Autor: Christoph Schlüren, 01/11
Sprecher: Detlef Kügow
Produktion: 11. Januar 2011
Er