Aristokrat und Mystiker

Sendemanuskript für BR 4 (Redaktion: Susanne Schmerda)

1
Contrappunti per tre archi e orchestra, 1. Satz Molto moderato e marcato, Anfang
Franco Gulli (Vl), Bruno Giuranna (Va), Giacinto Caramia (Vc), Orchestra Sinfonica di Milano della Rai, dir. Sergiu Celibidache; Milano, 5. April 1968
RAI-Aufnahme
LP; Dauer: 3’17’’

Den Anfang der 1962 entstandenen Contrappunti per tre archi e orchestra von Giorgio Federico Ghedini spielten Franco Gulli, Bruno Giuranna, Giacinto Caramia und das Symphonieorchester der Rai Milano unter Sergiu Celibidache in einer Aufnahme von 1968.
Der Komponist, den wir hier vorstellen, ist fast völlig vergessen. Das ist nicht so leicht zu verstehen, denn eigentlich hat er alles, was nötig ist, um in den Annalen der Musikgeschichte eine nachhaltige Rolle zu spielen und in den Konzerthäusern in aller Welt ein geläufiger Name zu sein. Giorgio Federico Ghedini war ein origineller Künstler, dessen Werke in ihrem Tonfall so eigentümlich sind, dass man seine Handschrift fast immer sofort aus allen anderen heraushören kann. Er war ein profunder Könner, der über eine weittragende melodische Erfindung verfügte, dessen Harmonik eine ganz eigene Sprache zwischen den Zeiten spricht, ein vollendet sensibler Meister des fließenden Kontrapunkts, vitaler Rhythmiker und – diese Stärke teilt er mit den meisten seiner bekannteren Landsleute – ein Genie der Instrumentation.
Giorgio Federico Ghedini wurde am 11. Juli 1892 im piemontesischen Cuneo geboren. Er lernte bald Klavier- und Orgelspiel und erhielt als Cellist zusätzliche Förderung. 1911 erwarb er das Kompositionsdiplom am Liceo musicale in Bologna, und 1912 begann er als Dirigent an Theatern in der Provinz.
Nach dem Diplom beginnen die materiellen Sorgen. Orchester dirigieren? Aber welche? In diesen Zeiten? Vielleicht Komponieren? Aber Komponieren bringt kein Brot. Lehren? Mit welcher Autorität, mit gut 18 Jahren? Es blieb nur der Weg des Korrepetitors und Einspringers, der wenigstens die Möglichkeit bietet, sich ab und zu mit einem Orchester zu beschäftigen. Und schon bin ich am Reggio di Torino und an anderen Theatern, mit parallel laufenden Tätigkeiten: Gesangsunterricht, einige Konzerte, Korrepetition. Aber das Nomadenleben des Dirigenten gefiel mir nicht, auch nicht das Opernrepertoire, und oft hatte ich Mühe, die Abneigung gegen bestimmte Musik zu überwinden… Ich fand Zuflucht in Bach und Beethoven, von denen ich immer Partituren bei mir hatte, und aus ihnen hatte ich den guten Samen… Ich verließ dann die Theaterlaufbahn, obwohl finanziell sehr interessant, und trat in die öffentliche Musikschule ein: das Liceo musicale di Torino; bevor ich das Lehramt für Komposition bekam, lehrte ich Klavier im Nebenfach, Solfège, dann Harmonielehre, Kontrapunkt und Fuge, und das öffnete mir den Weg zur von mir begehrten Lehrstelle für Komposition.
Als Komponist suchte Ghedini in jenen Jahren in all der Vielfalt der Möglichkeiten nach einer Orientierung und nach seinem eigenen musikalischen Ideal. Natürlich nahm er regen Anteil an den neuesten Strömungen, an Strawinsky, Bartók, Hindemith, Casella, de Falla. Besonderen Gefallen fand er beispielsweise an Respighis spätem Concerto a cinque, und hier wird eine Vorliebe offenkundig, die für Ghedinis weiteres Schaffen prägend ist: die organische Verbindung der Tradition mit den neuen Mitteln, die lebendige Verehrung der alten Meister und der von ihnen gepflegten Ideale mit dem Abenteuer des Unbekannten. Italien ist ein Land mit einer unermesslich reichen kulturellen Tradition, doch die größten Leistungen liegen viele Jahrhunderte zurück. Ein gewisses nostalgisch-wehmütiges Element ist bei fast allen italienischen Komponisten des 20. Jahrhunderts festzustellen, vor allem in lyrischen Passagen, wie man es etwa in Respighis Concerto gregoriano und Antiche Danze, in Casellas Tripelkonzert oder auch Dallapiccolas Partita deutlich vernehmen kann. Bei Ghedini ist dies auch der Fall, doch in einer zumeist sehr unsentimentalen Weise, denn bei aller Neigung zum Schwärmerischen, Ätherischen war er ein pragmatischer, nüchterner Mann, und eine deutliche Prise jenes Zeitgeists, der Neue Sachlichkeit genannt wird, durchweht sein Schaffen, im Alter noch in zunehmendem Maße.
Wir schreiben das Jahr 1926. Ghedini hat sich intensiv dem Studium der alten Meister gewidmet, und er behrrscht sein Metier glänzend. Es entstehen die beiden ersten Werke, die seinen Namen in die breite Öffentlichkeit tragen: die Partita für Orchester und die Litanie della Vergine für Sopran, Chor und Orchester. Nach dem Erfolg der unbekümmert neobarocken Partita sorgt der Dirigent Vittorio Gui dafür, dass der Verlag Ricordi sich um die Verbreitung von Ghedinis Schaffen kümmert. Es folgt der Schluss des Finales der Partita, einer Gigue, gespielt vom Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Rudolf Alberth.

2
Partita, 5. Satz Gigue: Schluss
BR-SO, dir. Rudolf Alberth
BR-Aufnahme
CD, Track 2, Schluss; Dauer: 2’47’’

Den eigentlichen Durchbruch des Komponisten Giorgio Federico Ghedini brachte eine Aufführung der Litanie della Vergine im Jahre 1927 in Bologna. Der sonst selbstkritisch eingestellte Ghedini jubelte:
Wie sehr wünschte ich, Du hättest dieses bezaubernde Werk von mir hören können! So transparent und rein und hell!
1952 machte Ghedini als Dirigent in Neapel einige Platten-Liveaufnahmen eigener Werke, die nach mehr als fünfzigjährigem Schlaf in den Archiven Anfang 2009 von Naxos wiederveröffentlicht wurden. In dem folgenden Abschnitt aus den Litanie della Vergine singt Marica Rizzo, begleitet von Chor und Orchester Alessandro Scarlatti di Napoli della Rai unter Leitung des Komponisten.

3
Litanie della Vergine (1926): Schluss
Marica Rizzo (S), Assoziazione Scarlatti-Chor, Orchestra Sinfonica Alessandro Scarlatti di Napoli della Rai, dir. Giorgio Federico Ghedini; Neapel, live, 28. März 1952
Naxos 8.111325 (LC 05537)
Track 5, Schluss; Dauer: 2’49’’

Marica Rizzo sang in diesem Auszug von Giorgio Federico Ghedinis Litanie della Vergine aus Neapel unter Leitung des Komponisten. Anfang der dreißiger Jahre war Ghedini ein Stilpluralist. Er schrieb so unterschiedliche Werke wie das unverblümt neobarocke Pezzo concertante für 2 Geigen, Bratsche und Orchester oder die fast futuristisch anmutende romantische Tondichtung Marinaresca e Baccanale. Auch später sollte er gelegentlich wieder an solche Anflüge maskierter Stilisierung anknüpfen. Marinaresca e Baccanale entstand 1933. In seiner hemmungslosen Ausschöpfung orchestraler Effekte zeigt es, welch ein Hexenmeister des Orchesterklangs er war, was folgender Ausschnitt am Übergang vom getragenen Seestück zum bewegten Bacchanal demonstriert. In einer klanglich sehr unzureichend überlieferten, jedoch grandios inszenierten Aufführung hören sie die New Yorker Philharmoniker unter Victor de Sabata in einem New Yorker Mitschnitt vom März 1950

4
Marinaresca e Baccanale: Ausschnitt
New York Philharmonic, dir. Victor de Sabata; New York, März 1950
Archipel Records ARPCD 0135
CD 1, Track 4, 8’50 – 10’23; Dauer: ca. 1’33’’

Victor de Sabata dirigierte die New Yorker Philharmoniker in Marinaresca e Baccanale von Giorgio Federico Ghedini, komponiert 1933. Aus der gleichen Periode von Ghedinis Schaffen stammt der Großteil seiner Orchesterbearbeitungen von Werken alter Meister, die lange Zeit die am meisten gespielten Werke aus seiner Feder waren: Quattro Pezzi von Girolamo Frescobaldi, einige doppelchörige Stücke von Giovanni Gabrieli, das Musikalische Opfer von Johann Sebastian Bach. Ghedini liebte diese Musik über alles. Frescobaldi, Bach und Beethoven waren seine musikalischen Götter.
Eine von Ghedinis beliebtesten Transkriptionen war diejenige von Andrea Gabrielis Aria della Battaglia für modernes Blasorchester, die insbesondere Sergiu Celibidache in den frühen sechziger Jahren vielerorts im Repertoire führte. In der folgenden Aufnahme vom 8. April 1960 in Turin dirigiert Celibidache die Bläser des Orchestra Sinfonica di Torino della Rai in Ghedinis Arrangement der Aria della Battaglia von Andrea Gabrieli.

5
Andrea Gabrieli/Ghedini: Aria della Battaglia: Anfang
Orchestra Sinfonica di Torino della Rai, dir. Sergiu Celibidache; Turin, 8. April 1960
Rai-Aufnahme
CD, Track 1, Anfang; Dauer: 4’04’’

Sergiu Celibidache leitete die Bläser des Symphonieorchesters der Rai Torino in dieser Aufführung von Andrea Gabrielis Aria della Battaglia in der Einrichtung von Giorgio Federico Ghedini. Seit 1922 wirkte Ghedini als Kompositionslehrer am Mailänder Konservatorium. Das Unterrichten war ihm zutiefste ethische Verpflichtung, und aus seiner Schule gingen so bedeutende und unterschiedliche Musiker hervor wie die Dirigenten Guido Cantelli und Claudio Abbado und die Komponisten Niccolo Castiglioni, Carlo Pinelli, Alberto Bruni Tedeschi und Luciano Berio. Mit denen, die echte Begabung zeigten, wie beispielsweise Goffredo Petrassi oder Bruni Tedeschi, dem Vater von Carla Bruni, verband ihn schnell eine herzliche Freundschaft. Gegenüber Unbegabten war er oftmals vernichtend, und er hasste das geheuchelte Lob. 1943  berichtet Ghedini:
Es waren viele Prüfungen, und darüberhinaus wurde ich von vielen Jungen belagert, die mir ihre Kompositionen zeigen wollten, und zu denen ich nicht Nein sagen konnte, da ich es für meine Pflicht halte, meine Erfahrung denen zur Verfügung zu stellen, die der Kunst dienen. Als außergewöhnlich sind in diesem Zusammenhang die Stücke eines von Geburt an Blinden zu erwähnen, eines gewissen Girotto aus Vicenza, 45 Jahre alt, vollkommen unbekannt, und er hat scheinbar eine sehr reiche Produktion. Von dem habe ich eine Messe und eine Klaviersonate gehört, gespielt von Ommizolo (einem Lehrer Pollinis), der sich die Mühe machte, alle Werke Girottos niederzuschreiben. Die Art dieses Musikers folgt den Pfaden von Strawinsky, Hindemith, Schönberg und Alban Berg, und – warum nicht? – Frescobaldi. Die Welt ist ungerecht. Girotto müsste bekannt sein. Für drei Noten von ihm würde ich den ganzen Respighi opfern.
1936 und 1938 vollendet Ghedini seine großen Opern Maria d’Alessandria und Abu Hassan. Mussolinis Italien tritt an der Seite von Hitlers Deutschland in den Krieg ein. 1941 werden die Professoren am Mailänder Konservatorium zu einfachen Lehrbeauftragten herabgestuft.
In diesen schweren Jahren entstehen einige von Ghedinis großartigsten Werken. Unter den Dirigenten, die Ghedinis Werke besonders häufig aufführten, sind Sergiu Celibidache, Mario Rossi, Guido Cantelli – der bis zu seinem frühen Tod die Werke seines Lehrers in New York kontinuierlich aufs Programm setzte –, Carlo Maria Giulini, Claudio Abbado und Gianandrea Gavazzeni hervorzuheben, doch auch Hans Rosbaud, Paul Kletzki oder Riccardo Muti haben sich für Ghedini eingesetzt. Ghedini selbst war ein exzellenter Dirigent, und er hatte hohe Ansprüche an die Aufführung jeglicher Musik. Nicht zufällig stößt man in seiner Korrespondenz immer wieder auf Namen wie Furtwängler, Celibidache, Rossi, Previtali, das Trio di Trieste oder das Quartetto Italiano. Sein Klavierkonzert widmete er Arturo Benedetti Michelangeli.
Während des Krieges lebt Ghedini auf dem Lande, in Borgosesia in der Nähe von Novara, um den Bomben der Alliierten zu entgehen.
Wenn man hungert, muss man den Gürtel enger schnallen. Gegen Mittag wird mein Arbeitszimmer zu einer Art Wüste mit einer Fata morgana in mehr oder weniger konkreter Form von Prosciutti, Parmigiani, usw. – es sind Trugbilder, denn diese Dinge sind schon lange aus unserem Haus verschwunden. Wir haben sehr gelacht, mit Grazia, bei dem Gedanken, dass Du mindestens fünf Stunden am Tage übst, um in Form zu bleiben, doch wir würden ganz andere Formen brauchen: z.B. Pecchorino, denn nur danach würden wir uns die Lippen lecken.
In den letzten Kriegsjahren komponiert Ghedini einige seiner ambitioniertesten Werke, experimentiert teilweise mit freier Zwölftönigkeit und erfreut sich des kontrollierten Spiels der Dissonanzen, die nach Auflösung streben. Dies trägt ihm in reaktionären Kreisen den Ruf ein, ein radikaler Modernist zu sein, was jedoch zu keinem Zeitpunkt seine Zielsetzung war. Ein gutes Beispiel für die Musik jener Zeit sind die Sette Ricercari für Geige, Cello und Klavier von 1945, aus welchen nun der Anfang des siebten Ricercars, Grave e dolce, zu hören ist, gespielt von Rodolfo und Arturo Bonucci sowie Aldo Orvieto am Klavier.

6
Sette ricercari (1945): No. 7 Grave e dolce: Ausschnitt
Rodolfo Bonucci (Vl), Arturo Bonucci (Vc), Aldo Orvieto (Pf); Milano, 1994
Stradivarius STR 33395
Track 7; Dauer: 1’37’’

Die Nachkriegsjahre waren eine sehr fruchtbare Zeit in Ghedinis Schaffen. 1951 klagte er allerdings in einem Brief an einen Freund:
Und jetzt will ich Dir wirklich sagen, das Konservatorium interessiert mich gar nicht mehr. Es bringt nur Unannehmlichkeiten und nimmt mir viele Arbeitsstunden weg, und, viel wichtiger, es zwingt mich, Turin zu verlassen – die Stadt, die ich sehr liebe ob der vielen schönen Erinnerungen.
Noch im selben Jahr wurde er von diesen Verpflichtungen befreit und erhielt andere übertragen. Ghedini wurde Direktor des Mailänder Konservatoriums. Dies fiel zusammen mit der Tatsache, dass sich eines seiner Werke auf den Konzertpodien in aller Welt großen Erfolgs erfreute: das 1945 komponierte Concerto dell’Albatro über eine Passage aus Herman Melvilles ‚Moby Dick’ – jener magische Moment, in welchem er zum ersten Mal einen Albatros erblickt und angesichts der Majestät des Vogels in einen Zustand visionär-philosophischer Verzückung gerät. Dieses Werk hat Ghedinis Namen mehr als irgendein anderes bekannt gemacht. Die längste Zeit ist es rein instrumental gehalten, in Alternanz und Zusammenspiel des solistischen Klaviertrios und des Orchesters, bis endlich die Sprechstimme den musikalischen Verlauf mit jenen Bildern illustriert, die der Musik ihre magischen Impulse geliehen haben. Diese Schlussphase des Concerto dell’Albatro erklingt nun in einer New Yorker Aufnahme von 1951 mit Mischa Mischakov, Violine, Frank Miller, Cello, Artur Balsam, Klavier, und dem NBC Symphony Orchestra unter Guido Cantelli. Sprecher ist Ben Grauer.

7
Concerto dell’Albatro (1945): Ende des 4.Satzes bis Schluss
Mischa Mischakov (Vl), Frank Miller (Vc), Artur Balsam (Pf), Ben Grauer (Rec), NBC Symphony Orchestra, dir. Guido Cantelli; New York, 1951
Testament SBT4 1336
CD 2, Track 8-9; Dauer: 5’36’’

Die Solisten Mischa Mischakov, Frank Miller und Artur Balsam, das NBC Symphony Orchestra unter Ghedinis Schüler Guido Cantelli und der Sprecher Ben Grauer waren die Ausführenden in Giorgio Federico Ghedinis 1945 entstandenem Concerto dell’Albatro nach Herman Melvilles ‚Moby Dick’. Manche Kommentatoren sehen in Ghedinis späterem Schaffen ab Mitte der fünfziger Jahre bis zu seinem Tode am 25. März 1965 in Genua, ähnlich wie zur gleichen Zeit beim fast gleichaltrigen Paul Hindemith, einen allmählichen Erstarrungsprozess in einer Art selbstgeschaffenem Akademismus. So wie manche in Ghedinis frühen Werken noch eine übermächtige stilistische Abhängigkeit von seinen Vorbildern erblicken. Die noch folgenden Werkausschnitte widerlegen diese Ansichten schlagkräftiger als jede intellektuelle Diskussion.
Franco Gulli war der wohl feinste, nobelste italienische Geiger des 20. Jahrhunderts. Seine Einspielung der Respighi-Sonate ist unerreicht, und dass er Ghedinis frühe Violinsonate in Es-Dur eingespielt hat, muss als Glücksfall der Aufnahmegeschichte betrachtet werden. Sie hören Franco Gulli und Enrica Cavallo mit dem Mittelsatz, ‚Doloroso’, aus Ghedinis Violinsonate von 1922.

8
Sonata in mi bem. maggiore per violino e pianoforte (1922): 2. Satz Doloroso: Ausschnitt
Franco Gulli (Vl), Enrica Cavallo (Pf); Mai 1986
Dynamic CDS 39
Track 5, Mittelteil; Dauer: 2’44’’

Franco Gulli und Enrica Cavallo trugen den langsamen Satz, Doloroso, aus Giorgio Federico Ghedinis erster Violinsonate von 1922 vor. Vielleicht fragt sich jetzt mancher Hörer, wieso er den Schöpfer dieser Musik bislang nicht einmal dem Namen nach kannte. Dies lässt sich teilweise erklären mit dem gewaltig propagierten ideologischen Machtanspruch der Nachkriegsmoderne, der ja besonders die Zwischengeneration traf, der auch Ghedini angehörte, und der viele Kollegen dazu führte, sich die neuen Techniken der Avantgarde anzueignen, um nicht als altmodisch zu gelten. Doch andere Zeitgenossen Ghedinis wie etwa Frank Martin, Bohuslav Martinu oder Paul Hindemith haben gleichfalls, bei aller Komplexität ihres Œuvres, ihre Verwurzelung in der Tradition der Tonalität nicht geleugnet, und sie sind nie vergessen worden. Also bleibt es zugleich auch ein Rätsel, wieso ein Komponist vom Kaliber Ghedinis so völlig unter die Räder des aktuellen Musikbetriebs kommen konnte. Und wenn sich jemand seiner Werke annahm, so ist es interessant, wie es dazu kam. Sergiu Celibidache erkannte in Ghedini den vorzüglichsten italienischen Komponisten seiner Zeit, und hat mindestens sieben seiner Originalwerke und die meisten seiner Bearbeitungen aufgeführt – manche davon häufiger an verschiedenen Orten. Die Ouverture pour un concert schrieb Ghedini 1963 für Celibidache. Zu jener Zeit gab Celibidache Dirigierkurse in Siena, und einer seiner Schüler war Eliahu Inbal. Später hat Inbal mehrmals diese Ouverture dirigiert, so unter anderem in der gleich folgenden Aufnahme, wo er die Bamberger Symphoniker leitet. Doch lassen wir vorher Ghedini zu Wort kommen über die Entstehung von Musik.
Es ist ein unvorstellbares Mysterium: die Erschaffung eines Kunstwerks, ausgehend von der einfachen melodischen Linie, die die musikalische Essenz ist … Melodie ist alles. Harmonie ist wie die Flasche für den Wein, der Rahmen für das Gemälde. Auch in der Architektur braucht es zuerst einmal die Zeichnung … In meinem Komponierzimmer stört mich aller Luxus. Ein zu gutes Klavier lenkt mich ab durch die Sinnlichkeit seines Klanges. Ein mittelmäßiges Instrument befeuert meine Vorstellungskraft. Äußere Einfachheit entfacht innere Komplexität … Unmittelbare äußere Stimulation (zum Beispiel durch eine Landschaft) ist nutzlos. Bilder, die tief im Unbewussten verborgen lagen, fliehen nach einem langen, anstrengenden Prozess auf unerklärliche Weise plötzlich ins Licht, in musikalischer Form. Diese mysteriöse Brutzeit kann jahrelang dauern … Fazit: Mache nie die Kunst zur bequemen Karriere. Musik ist Erfindung, immer; sie ist getrennt von der alltäglichen Realität, ein Traum, eine poetische Vision. Du musst Deine eigene Kunst lieben, welches Opfer auch immer Du dafür bringst.

9
Ouverture pour un concert: Ausschnitt
Bamberger Symphoniker, dir. Eliahu Inbal
BR-Aufnahme
CD, Track 1, 2’18 – 4’19; Dauer: 2’01’’

In Giorgio Federico Ghedinis später Ouverture pour un concert von 1963 waren die Bamberger Symphoniker unter Eliahu Inbal zu hören. Als praktizierender Lehrer in Komposition, dessen Schüler zu den Größten seines Landes in ihrer Generation zählen, wusste Ghedini genau, wovon er sprach, und so ist es von großem Interesse, seinen Ausführungen zum Verhältnis von Inspiration und technischer Organisation zu folgen.
Die Inspiration ist eine sehr schöne Sache, doch glaube ich auch an den Intellekt, an die mentale Organisation des Künstlers. Das Genie, sagte Manzoni, bedeutet ‚Nachdenken über…’. Das ist alles. Wir wissen, welche Mühe es für Beethoven war, die Themem zu finden. Mozart und Bach hatten keine Mühe damit. Aber darum bleibt Beethoven, was er ist. Er hat keinen geringeren Wert. Auch ein d’Indy wusste vielleicht, sich zu organisieren, aber jetzt kommt eine delikate Sache ins Spiel, die, wenn sie nicht da ist – na dann gute Nacht! Der Faktor Poesie. Und das ist gerade das Geheimnis: Poesie zu haben, alles Fühlen und Sehen in der poetischen Gemütsbewegung, also lyrisch, und dann auch dramatisch. Die Noten in ihrem emotionalen Potential zu erfassen, daraus lebendige Zellen zu machen, alles pulsierend empfunden und zugleich logisch begriffen. Nehmen wir beispielsweise ihr Pezzo sacro: Ihnen muss vor allem im Kopf die dramatische Situation gegenwärtig sein – wenn das nicht der Fall ist, verfällt man unvermeidlich in Manierismus. Mit der ‚dramatischen Situation’ meine ich Folgendes: Man muss sich die Frage stellen, wer dieses Ava Maria singt. Eine leidende Seele? Ein hingebungsvoll gläubiges Wesen? Eine Gemeinde in San Pietro oder ein Mönchschor? Als ich 1926 eine Fuge über die Litanei komponierte, kam ein frisches, frühlingshaftes Werk heraus, fast, so könnte man sagen, in pantheistischem Ton, mit Andeutungen eines Tanzes, nichts Religiöses scheint in dieser Komposition zu wirken, die aber doch auf einem sakralen Text basiert. Es ist eben so, dass ich damals an junge Mädchen gedacht habe, die vor einer Kapelle inmitten der Felder für Maria singen. Ich war damals in Corio und sah diese bescheidene kleine Kapelle, geschmückt mit Wiesenblumen, und mit dieser Empfindung entstand meine Komposition, und in der Tat ist sie in dieser Art gelungen, und sogar die Kritiken beschrieben sie als eine frische Votivgabe an die Madonna. Wenn ich mir 24 psalmodierende Mönche vorgestellt hätte, wäre es gewiss was anderes geworden. Und so wird in wenigen Strichen mit der Wahl der Inszenierung das Drama geschaffen und verwirklicht, und auch das Drama in der Lyrik von Schubert. Im Falle der ganz Großen – wie Bach und dergleichen – ist das Drama nichts anderes als das unmittelbare Drama der Seele des Autors. Und wir, die wir die Religiosität des gläubigen Bach, des gläubigen Beethoven haben (es ist religiöse Musik, auch wenn es nicht die Missa solemnis ist; Musik, wenn sie von höchster Qualität ist, ist religiös, denn Kunst ist Mysterium und Religion in einem), und religiös können wir auch die Musik Mozarts nennen, wenn er transzendiert ins reine Absolute, Aufgelöste. Wir folgern daraus: Man muss beim Komponieren immer eine ideale Inszenierung vor Augen haben. Dann kommen die Ideen – das Gefundene –  von selbst. Denn der Autor ist unwillkürlich befruchtet von den Bildern, die die Ideenassoziationen vermitteln. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausgedrückt habe. Mit anderen Worten handelt es sich zum Beispiel um Folgendes: Ich will ein symphonisches Werk komponieren. Nehme ich ein gewöhnliches Orchester, wird mein Stil vermutlich innerhalb des Bekannten sein, doch wenn ich eine instrumentale Familie ausschließe – seien es die Streicher oder ein Teil von ihnen, usw.: diese ungewöhnlichen technischen Mittel werden meine Hand zu anderen Möglichkeiten führen, da ich den Weg finden muss, ohne diese Instrumente auszukommen. Oder glauben Sie, dass es ohne Bedeutung für den Charakter und die Inspiration war, den Umstand geschaffen zu haben, dass drei Bläser gegen den dünnen Klang von vier Streichern kämpfen, und dazu die Gefahr, die von den Pauken ausgeht in meinem ‚Concerto spirituale’? Fraglos wäre das Concerto ein anderes geworden, im guten oder im schlechten Sinne, hätte ich mir erlaubt, die Streicher zu verdoppeln. Und das ist ein Teil – mehr der materielle als der spirituelle – der musikalischen Inszenierung. Es ist unabdingbar, die Mittel, derer man sich bedient, nicht zu vernachlässigen, und exakt in der Balance dieser zwei Welten liegt das Erfolgsgeheimnis einer musikalischen Komposition. Und jetzt hören wir damit auf.
Giorgio Federico Ghedini hat ein Kapitel italienischer – und europäischer – Musikgeschichte geschrieben, das heute fast vollkommen unbekannt ist. In den kontrapunktischen Geweben seiner Werke verschmolz er in unverwechselbar selbständiger Weise die Werte der großen Musik der Vergangenheit mit jenen stilistischen Mitteln seiner Zeit, die ihm dafür geeignet erschienen. Ein Kommentator hat es treffend folgendermaßen ausgedrückt: ‚Wie ein Albatros schwebte er über der unruhigen See der Musikgeschichte.’ Ghedini war ein Repräsentant der aussterbenden künstlerischen Aristokratie Italiens, der seine ganze Kraft in den Dienst jener Aufgabe stellte, die darin besteht, die mystischen Elemente, welche ungreifbar allgegenwärtig sind, klingende Gestalt annehmen zu lassen. Zum Abschluss dieses Porträts hören wir das Trio di Archi di Milano, bestehend aus Franco Gulli, Violine, Bruno Giuranna, Viola, und Giacinto Caramia, Cello, begleitet vom Symphonieorchester der Rai Milano unter Sergiu Celibidache, in einer Aufnahme vom 5. April 1968 mit dem Mittelsatz, Andante misterioso, aus Giorgio Federico Ghedinis Contrappunti per tre archi e orchestra von 1962.

10
Contrappunti per tre archi e orchestra, 2. Satz Andante misterioso: Mittelteil, Schluss, Übergang ins Finale
Franco Gulli (Vl), Bruno Giuranna (Va), Giacinto Caramia (Vc), Orchestra Sinfonica di Milano della Rai, dir. Sergiu Celibidache; Milano, 5. April 1968
RAI-Aufnahme
LP; Dauer: 6’49’’

¢¢[¢[¢[¢[¢[¢[¢[¢[

Sendemanuskript für BR 4 (Redaktion: Susanne Schmerda)
Produktion: 8.1.2009, BR
Erstsendung: 12.1..2009, BR4 ‚Horizonte’, 22.05
Sprecher: Gerd-Udo Feller & der Autor
Technik: Viktor Veress
Christoph Schlüren 1/2009